Sapia Medienanfragen Fachbezogene Stellungsnahmen

3. Juni 2020 | Katrin Andres

Corona-Verschwörungstheorien: Gefahr und Chance für die Demokratie

Die aktuelle SARS-CoV-2-Krise traf die Bevölkerung unerwartet. Sie beeinflusst seit Monaten das alltägliche Leben. Nachdem der Fokus anfänglich auf medizinisches Wissen gerichtet war, werden mit zunehmender Dauer der Krise auch soziale und gesellschaftliche Auswirkungen sicht- und spürbar.

Ein Phänomen, welches in den letzten Tagen und Wochen im digitalen wie nicht-digitalen Raum zunehmend auftaucht, ist das der Corona-Leugnenden und der Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit dem Virus. Beinahe alle grösseren Medien in der Schweiz, von renommierten Redaktionen über neuere Plattformen bis hin zu Boulevard-Zeitungen, haben die Thematik aufgegriffen und kommentiert. Ihre Berichterstattung reicht von nüchternem Fakten-Check bis hin zu schrillen Warnungen betreffend eines Angriffs extremistischer Kräfte auf unsere Demokratie.

Grund genug für uns von SAPIA, unsere Recherche-Profile wieder einmal zu aktivieren und uns auf den unterschiedlichen Kan9älen der Corona-Leugner selbst umzusehen. Gefunden haben wir eine grosse Menge an Texten, Kommentaren, Bildmaterial und Veranstaltungshinweisen, welche wir analysiert haben. Nachfolgend findet ihr die Resultate unserer Recherche und unsere Einschätzung der aktuellen Situation:

 

Recherche auf Dark Social Kanälen

Unsere Recherche hat uns über Verlinkungen rasch auf Kanäle von Messenger Diensten wie VK und Telegram geführt. Diverse Medien berichten davon, dass diese Kanäle eine zentrale Rolle für den Austausch von Corona-Leugnenden und die Mobilisierung für Aktionen spielen. Diese Entwicklung hin zu Dark Social, also Kanälen, die nur für Mitglieder der Chatgruppen sichtbar sind, beobachten wir generell im Bereich des Extremismus. Plattformen wie Facebook, Instagram oder Youtube werden weniger genutzt, da die dahinterstehenden Firmen bei unangebrachten Posts Kanäle vermehrt löschen oder sperren. 

Neben diversen Kanälen, welche sich generell an deutschsprachige Interessierte richten und oftmals viel Material enthalten das explizit Themen aus der Politik Deutschlands aufgreift, finden sich in Bezug auf Corona-Verschwörungstheorien auch Kanäle ausdrücklich für die Schweiz. Auf diesen Kanälen werden neben den beschriebenen Inhalten auch regionale Aktionen bekanntgegeben, koordiniert und Aufnahmen von Aktionen geteilt. Unsere Recherche konzentriert sich insbesondere auf diese Kanäle. Die Links zu diesen Kanälen sind bei gezielter Suche sehr schnell auffindbar, der Beitritt ohne persönliche Anfrage oder ähnliches möglich. Es handelt sich entsprechend zwar um Dark Social Kanäle, der Zugang ist jedoch sehr niederschwellig.Bei der Sichtung der Inhalte sind uns drei Kategorien von Material besonders aufgefallen, die unterschiedliche Strategien verfolgen:

 

Material, welches den Virus mit bestehenden Verschwörungstheorien verknüpft

Viele Beiträge greifen altbekannte Verschwörungstheorien auf. Es finden sich Verweise auf die Technologie 5G als Ursache des Virus, ebenso wie auf Chemtrails. Propagiert wird auch eine Verschwörung der Polit- und Finanzelite, die die Menschheit gefügig machen will durch Verunsicherung und Angst. Daran anknüpfend wird zudem die Theorie einer Verschwörung aller populären Medien vermutet, die durch diese Polit- und Finanzelite kontrolliert werden. Auch klassisches antisemitisches Gedankengut wird geäussert. Solches Material kann einerseits Menschen ansprechen, die für andere Verschwörungstheorien affin sind. 

Andererseits kann es Menschen, die sich für Verschwörungstheorien rund um das Virus interessieren für weitere Theorien empfänglich machen. Bildquelle: Telegram, Aktionsraum Zentralschweiz...

 

Material, welches Elemente der Populärkultur aufgreift

Immer wieder entdecken wir Material, welches die Gestaltung populärer medialer Inhalte wie beispielsweise Memes oder typischer Instagram-Schriften aufgreift. Diverse Male wird auch auf den Film Matrix verwiesen, der unter Anhängern von Verschwörungstheorien beliebt ist. Dieses Material eignet sich besonders dazu, häufig geteilt zu werden. Damit können niederschwellig Personen angesprochen werden, die sich noch nicht vertieft mit der Thematik befasst haben. Gerade von extremistischen Gruppierungen wird seit Jahren verbreitet auf solche Gestaltungselemente und Inhalte zurückgegriffen. Insgesamt fällt auf, dass sich das Material nicht explizit an Jugendliche zu richten scheint. Die geteilten Inhalte und deren Gestaltung sind oft an klassischen Medien wie Zeitungen orientiert. Politische Themen dominieren, viele Inhalte sind textlastig, was Kinder und Jugendliche eher abschreckt. Zielgruppe scheinen eher Menschen mittleren Alters zu sein.


Wir stossen in den durchsuchten Gruppen immer wieder auf Material, welches sich direkt auf die Schweiz bezieht. Das ist insofern aussergewöhnlich, als dass wir vor der Krise in diversen Messengergruppen im Bereich der Verschwörungstheorien eher selten solches Material gefunden haben. Vielmehr wurde überwiegend Material aus Deutschland geteilt. Wir finden auch diverse Verlinkungen zu Personen, die klar dem rechtsextremen Spektrum der Schweiz zugeordnet werden können. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass rechtsextreme Gruppierungen aktiv versuchen, die Krise für ihre Zwecke zu nutzen.Bildquelle: Telegram, Archiv Corona Rebellen Helvetia

 

Unsere Einschätzung der Lage:

Nach der Recherche scheinen uns in Bezug auf die digitalen Kanäle rund um Verschwörungstheorien in Bezug auf Corona folgendes relevant:

 

  • Auf den von uns untersuchten Kanälen werden diverse Artikel, Bilder und Videos geteilt. Es findet sich ein Gemisch aus Gerüchten, Beiträgen von privat betriebenen Medien, deren Wahrheitsgehalt oftmals schlecht überprüfbar ist oder mit wenig Recherche widerlegt werden kann. Dazu finden sich einseitig ausgewählte Artikel verbreiteter Nachrichtenagenturen, welche die Sichtweise der Gruppenmitglieder bestätigen. Die Quellen der hochgeladenen Informationen werden selten kritisch hinterfragt, abweichende Meinungen sind kaum zu finden. Da die Inhalte der Kanäle ein Misstrauen gegenüber anderen Medien und öffentlichen Instanzen fördern, können sie Personen verunsichern und isolieren. Es besteht somit die Gefahr einer Wahrnehmungsverzerrung von Personen, die sich überwiegend über solche Kanäle informieren. 
  • Es finden sich viele Verlinkungen zu weiteren Gruppen oder Kanälen auf Social Media. Augenfällig ist, dass diverse Verlinkungen zu rechtsextremen Veranstaltungen oder Kanälen vorkommen. Verlinkungen zum linksextremen Spektrum finden wir nicht. Auf Twitter treffen wir zudem auf diverse Antifa-Gruppierungen, die sich offen gegen die Anti-Lockdown-Demonstrationen positionieren. Es muss entsprechend davon ausgegangen werden, dass rechtsextreme Gruppierungen über diese Kanäle gezielt versuchen, ihre Anhängerschaft zu vergrössern.
  • Durch die aktuelle Krise sind viele Menschen verunsichert. Es ist momentan sehr anspruchsvoll, sich selbst verlässliche Informationen zu beschaffen. Zudem ist die Stressbelastung bei vielen Personen höher als vor der Krise. Wir befürchten deshalb, dass Verschwörungstheorien auch Personen ansprechen, die sich sonst abgrenzen könnten.
  • Die Inhalte richten sich oftmals an Personen ab dem mittleren Lebensalter. Aus diversen Studien ist bekannt, dass diese Altersgruppe, die nicht mit der Informationsflut des Internets aufgewachsen ist, in Bezug auf Fake News oft weniger medienkompetent ist als Jugendliche. Diese Personen können zudem mit präventiven Massnahmen nur schwer erreicht werden.
  • Die Kanäle sind regional verankert. Zudem führen sie zu Aktionen wie Demonstrationen, an denen bisher nicht radikalisierte Personen von Extremisten und Extremistinnen direkt angesprochen werden können. Ein direkter Kontakt ist für viele Radikalisierungsverläufe zentral. 

Wir gehen nicht davon aus, dass solche Kanäle zu einer massenhaften Radikalisierung von bisher nicht interessierten Personen führen. Aufgrund der oben genannten Aspekte sehen wir jedoch aktuell durchaus die Gefahr, dass sich Einzelpersonen in diesem Umfeld radikalisieren könnten. Mit einem generellen Verbot dieser Kanäle oder Inhalte wäre aber niemandem gedient. Durch die Nutzung von Dark Social Gruppen können solche Verbote nicht durchgesetzt werden. Vielmehr sehen wir es als zentral an, dass diese Gruppen nicht einfach sich selbst überlassen bleiben. Stattdessen muss eine Gegenposition zu den einseitigen Darstellungen und Inhalten sichtbar werden. Interessant scheint uns in diesem Zusammenhang die Idee der Gruppierung #ichbinhier, die auf Facebook aktiv ist und Freiwillige vernetzt, die in einseitigen Diskussionen auf Social Media aktiv Gegenrede betreiben und Falschinformationen aufdecken. Aus unserer Sicht wäre eine solche Initiative bei entsprechender professioneller Begleitung eine vielversprechende Möglichkeit, die Bildung von Filter Bubbles zu verhindern. Zudem muss überlegt werden, wie Zielgruppen der beobachteten Kanäle, die nur schwer erreichbar sind, besser für Fake News sensibilisiert werden können. Die Medienkritikfähigkeit muss gesamtgesellschaftlich gefördert werden, um Menschen gegen Beeinflussungsversuche durch Extremisten und Extremistinnen zu stärken.Nicht zuletzt scheint uns auch zentral, dass die Sorge um die Meinungsfreiheit und die aktuelle Begrenzung von Grundrechten ein legitimes Anliegen ist. Um zu verhindern, dass sich Personen solchen Kanälen anschliessen und Inhalte unreflektiert übernehmen ist es zwingend nötig, dass die Meinungsfreiheit geschützt wird. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass Falschnachrichten unkommentiert bleiben sollen. Sie dürfen aber, solange sie nicht strafrechtlich relevant sind, auch nicht systematisch unterdrückt werden. Zudem muss es dringend möglich sein, sich im Rahmen der nötigen Sicherheitsmassnahmen politisch zu äussern, beispielsweise bei Kundgebungen oder Demonstrationen.

Damit wäre gar möglich, dass das direktdemokratische System der Schweiz langfristig gestärkt aus dieser Krise hervorgeht.


Autorin Katrin Andres